6.1.08

Ansuz

Die Rune Ansuz wird zum ersten Mal wirksam, als die drei Götterbrüder Odin, Hönir und Lodur am Meeresstrand zwei angespülte Bäume finden. Der erstere von den drei Asengöttern gibt den leblosen Hölzern nämlich Atem, Seele und Leben. Versehen auch mit den Gaben der beiden anderen entsteht so das erste Menschenpaar.
Der Gott des Alten Testaments tat zuvor weiter östlich - in der Richtung, aus der die Vorfahren der germanischen Stämme auf verschlungenen Wegen herkamen - etwas ganz Ähnliches, nur nahm er dazu einen Erdklumpen. „Ein Dunst aber stieg von der Erde auf und bewässerte die ganze Oberfläche des Erdbodens, da bildete Gott, der Herr, den Menschen, [aus] Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.“ (1.Mose,2)
Bei diesen beiden Schöpfungsmythen fällt auf, dass der physische Teil der Schöpfung schon vorhanden ist (totes Holz, feuchter Staub), wenn die Herren auf den Plan treten. Das sieht mir ganz nach einem frühen Versuch aus, den angeblich zentralen Teil der Erschaffung von Leben den Müttern streitig zu machen.
Göttlicher Atem – was könnte damit wohl gemeint sein? Die Seele wird erwähnt und das Leben. Heute würde ich außerdem Geist, den Verstand und die Vernunft dazurechnen.


Die Rune Ansuz, in der das Wort Ase steckt, wird als Odins Rune bezeichnet. Er singt im Havamal: „Ein viertes weiß ich [Ansuz ist die vierte Rune des älteren Futhark], wenn der Feind mir schlägt in Bande die Bogen der Glieder, so bald ich es singe, so bin ich ledig, von den Füßen fällt mir die Fessel, der Haft von den Händen.“ Es scheint sich hierbei also um ein Befreiungslied zu handeln. Wovon befreit Ansuz denn? Vielleicht entlastet sie von der Erstarrung in Sprachlosigkeit, von Einsamkeit aufgrund mangelnder Kommunikation, von tiefem Leid und Verwirrung aus dem Unvermögen heraus, sich mitzuteilen.
Wann bleibt jemandem die Luft weg? Meistens geschieht dies infolge eines plötzlichen Schreckens. Der Mensch erstarrt und hört für einen Moment auf zu atmen. Wenn dann gleich darauf der Verstand sich wieder einschaltet und für das Erlebte Begriffe und Erklärungen findet, oder wenn der oder die Betroffene sich sogar darüber mitteilen kann, dann löst sich die Starrheit des Erschreckens meistens wieder auf.
Und in vergleichbaren Schreckmomenten schnappen andere Menschen nach Luft. Vielleicht hilft diese Extraportion Sauerstoff schneller über den Schrecken hinwegzukommen und macht reaktionsfähig. Aber einige Menschen wiederum schlagen sich nach dem ersten Luftschnapper die Hand vor den Mund, reißen die Augen auf und erstarren erst dann.
Jedes Leben Luft atmender Wesen beginnt mit dem ersten Einatmen. Für genau diesen Moment z.B. wird das Geburtshoroskop erstellt. So als ob wir unsere astrologischen Charaktermerkmale mit dem allerersten Atemzug inhalieren würden. Manchmal gibt es bei menschlichen Geburten sogar einen kleinen Klaps, damit die Atmung einsetzt. Oft ist empörtes Schreien die Reaktion darauf. Das ist auch eine Schrecksituation, die zum Luftholen führt, würde ich meinen. In den Büchern über die Runen wird häufig auf einen Zusammenhang von Thurisaz und Ansuz hingewiesen. In diesem Sinne wäre Thurisaz die Schreckensstarre und Ansuz die Lösung daraus.
Ansuz als Rune des Windgottes erinnert auch an eine andere Stelle aus dem Alten Testament, nämlich an den Geist Jehovas, der über den Wassern schwebt, denn das dort benutzte Wort „Ruach“ für Geist bedeutet Hauch, Luft und Wind. Es gibt noch weitere Mythen, in denen die Luft sich zwischen Himmel und Erde schiebt, um sie voneinander zu trennen. Nach sumerischer Vorstellung entzweit gleichermaßen der Herr des Windes, Enlil, die beiden aus dem Wasser geborenen Zwillinge Himmel und Erde voneinander. Das erinnert ein wenig daran, wie Odin selbdritt den Riesenzwitter Ymir in Himmel und Erde zerteilt. Auch in Ägyptischen und Polynesischen Mythen existieren ähnliche Bilder. Immer geht es dabei um die Schaffung von Raum, in dem das Leben sich entfalten kann.
Die Luft als das Trennende, das analysierende Element entspricht dem Denken und der Kommunikation, wie es auch bei den drei astrologischen Luftzeichen Zwillinge, Waage und Wassermann deutlich wird. Und „Spiritus“, das heißt sowohl Atem als auch Geist und Seele, womit wir wieder am Anfang wären und überdies bei der Begeisterung. Damit ist wohl die in der Runenliteratur häufig erwähnte Ekstase gemeint, welche sich möglicherweise auch auf Odins schamanische Fähigkeiten bezieht.
Interessant finde ich noch, dass Ansuz auch Ass heißt und tatsächlich der so genannten Karte im Kartenspiel entspricht, es also auch eine Entsprechung zur Eins gibt. Warum Ansuz dann aber nicht die erste Rune im Futhark ist, so wie es der Buchstabe A im Alphabet ist, verstehe ich nicht.


Weitere Gedanken zu Ansuz:
  • Tante Wiki meint, die Rune spricht sich onsuss mit einem o wie in offen
  • Ansuz als Lebensatem, die geistige Entsprechung zu Fehu als Lebenskraft.
  • Inspiration des Geistes, göttliche Inspiration
  • Gebet, Spiritualität
  • Zauberformeln
  • Liedersingen
  • Predigen
  • „Besprechen“ von Krankheiten
  • die Grußformeln Hallo, Halleluja und Aloha
  • das Radio (sowohl die SprecherInnen als auch die SängerInnen)
  • Telefone, Handys
  • Atemübungen und -therapie (z.B. Rebirthing)
  • Gesprächstherapie zur Lösung von psychischen Mustern (gedanklichen Fixierungen)
  • von der Muse geküsst werden
  • frischen Wind bringen

Odin/Wodan
als der Ase, auf den sich Ansuz bezieht

  • als Wind- und Sturmgott
  • Gott der Ekstase
  • Dichtergott
  • Gott der Weisheit, des Wissens und des Witzes
  • als Mercurius ein redegewandter, göttlicher Bote

Erlebnisse beim Runenrufen 
(beim Runenseminar in 2010 o. 11)

Als erstes sah ich eine schnell dahinziehende, tiefe Wolkendecke in vielfältigen Grautönen. Dann tauchte ein Schwert in den Wolken auf, das hieß "Schwert der Klarheit". In anderen Zusammenhängen wurde ein Schnitzmesser daraus, mit dem weggeschnitten wurde, was nicht von Nutzen war. 
Einen mächtigen Engel sah ich und den Geist, der über den Wassern schwebte. Eine Botschaft lautete: das Chaos strukturieren durch Begriffe finden.
 
 

4 Kommentare:

Ursel hat gesagt…

Hallo Juansi,

Donnerwetter, Du bringst hier wirklich sehr umfassende Berichte !!
Mir fällt grad zum hebräischen Wort für "Geist/Hauch" noch ein, das es WEIBLICH ist : die Geistin !!
Haben wir bei unsrer alten Gemeindereferentin in einer Bibelnacht für Jugendliche gelernt. ;) Sie hat überhaupt so manche "subversive" Information an uns weitergegeben, die die "offizielle" Kirche nicht rausrückt..

LG Ursel

Juansi hat gesagt…

Hallo Ursel,

in meinem früheren Laden hatte ich einen Mönch als Stammkunden. Der erzählte mir mal, die katholische Kirche hätte Unterlagen unter Verschluss - wenn deren Inhalt bekannt würde, könnte der ganze Verein dichtmachen.

Übrigens ist das eine nette Vorstellung, dass der Geist auch eine Geistin ist.

Herzlichst Judith

Sati hat gesagt…

Hallo, Mimir!
Ich habe mal eine Frage zu Runen-Literatur an dich: Kennst du das Buch von Jan Fries (Helrunar) und wenn ja, kannst du es weiterempfehlen? Es kostet knapp 30 Euro, das will ein wenig überlegt sein. Und welches Buch würdest du zu Runen empfehlen?
Das E-Book habe ich schon gefunden, vielen Dank für den wertvollen Hinweis - und schon mal danke für eine Antwort. Ich hoffe, du kommst überhaupt noch hier vorbei, in deinem eigenen Haus ....
Anuja und der alte Runen-Vogel

Juansi hat gesagt…

Oje, stimmt! Hier war ich lange nicht mehr. Über die nächste Rune liegt irgendwo ein halbfertiger Text herum, mit dem ich aber nicht sehr zufrieden bin. Ich habe mich mehr drum gekümmert, diese Rune als Anhänger aufzutreiben, weil sie mir so sehr gefällt.
Die Bücheranfrage habe ich ja schon in meinem anderen Blog beantwortet. Hier noch mal in Kurzform:
Helrunar - weiß ich nicht mehr, ist zu lange her, dass ich es gelesen habe (in einer früheren Runenphase).
Gut finde ich die Bücher von Igor Warneck und das von Freya Aswynn.
Von Edred Thorsson bin ich nicht so begeistert.
Ljóskveðja Juansi